Zurückgelassene Botschaften
Dezember 2019
Wände. Sie halfen uns Menschen schon immer zu kommunizieren, Hinweise zu geben, uns zu verewigen. Von ersten Höhlenmalereien über Fresken bis zur Graffitikunst: Immer gab es Künstler – renommierte und unbekannte – , die sie nutzten, um Zeichen und Zeichnungen zu erschaffen, von Hand, möglichst groß und gedacht für die Ewigkeit. Mancherorts wurden sie Plattform der Polit-Propaganda, wo anders Raum zur werblichen Verführung. Doch während die Propaganda stets ein abruptes Ende fand und zu übertünchen war, hat die einst boomenden Werbewände nur die Gnade des Vergessens ereilt; sie wurden obsolet, verdrängt von effizienten Massenmedien und führen ihr Dasein seitdem im Schatten verwitternder Fassaden. Gerade diese physische Vergänglichkeit – überwuchert, abgeblättert, überklebt, nur in Fragmenten sichtbar – macht sie für den Reisenden wieder attraktiv. Ihr Verfall belegt ihre Substanz, die modernen Werbeträgern – erst recht den digitalen – bei weitem überlegen ist.
Diese Gemälde fotografisch festzuhalten, beschäftigt mich seit den frühen 90er Jahren. Mit diesem Kalender veröffentliche ich ausschließlich Motive, die ich in Frankreich entdecken konnte. Jedes dieser Wandbilder erzählt etwas über seine vergangene Zeit, die meisten stammen aus den 1930er Jahren. Schon damals war die Wahrnehmung einer Fassadenwerbung auf wenige Sekunden begrenzt. Der verfügbare Platz sollte gut genutzt werden, Fernwirkung war wichtig. So wurde die Gestaltung diesem Umstand unterstellt. Es finden sich kaum Slogans, stattdessen wurden Markennamen so inszeniert, dass sie zu Archetypen wurden. Dubonnet für Aperitif, Martell für Cognac, Renault für Automobile, Total für Kraftstoff. Dafür wurden sogar Typographie und Farben des Corporate Designs den architektonischen Situationen angepasst. Gerade die großen Marken offenbaren eine Raffinesse, mit der sie die formalen Gegebenheiten zu nutzen wussten. Das unterscheidet sie von den vielen kleinen, regionalen Werbewänden, deren Anmutung meist nicht über einen hübschen Vintage-Look hinausreicht. Ausnahme: das Mai-Motiv. Weil die fundierte Gestaltung nicht recht zum provinziellen Inhalt passen wollte, drückte ich den Auslöser. Das war im April 1993 und das erste Foto dieser Serie.
Im Laufe der 2. Jahrhunderthälfte hat die geänderte Straßenführung der Routes Nationales einst belebte Straßen vom Durchgangsverkehr abgekoppelt, ihre ehemals attraktiven Fassadenflächen haben zusätzlich an Bedeutung verloren. Oft verfallen die Häuser, und man möchte glauben, dass nur der Zauber der Buchstaben und Farben sie noch am Leben erhält.
Auf solchen verlassenen Seitenstraßen habe ich über viele Jahre und ein Tausendfaches an Kilometern hinweg diesen zurückgelassenen Botschaften nachgespürt. Einige von ihnen sind mittlerweile unwiederbringlich verloren gegangen. Um so wichtiger sind mir die fotografischen Zeugnisse, die unterwegsentstanden, mit den unterschiedlichsten Kameras und Formaten, von der analogen Holga Spielzeugkamera bis zur digitalen Hasselblad, jede mit ihrer ganz eigenen Sicht der Dinge.
Oktober 2022 Kalender täuschen. Sie geben vor, die Zukunft planbar machen zu wollen, aber in Wahrheit liegt ihr Wesen darin,zu dokumentieren, wie die Zeit vergeht. Das gilt für jeden seiner Art, für den vorliegenden ganz besonders. »Zurückgelassene Botschaften«, Ausgabe 2023: Das ist die Fortsetzung meines Fotoprojektes zu historischenWerbefassaden,die ich über Jahrzehnte in Frankreich fotografiert habe, und das 2020 mit dem bedeutenden Gregor Calendar Award ausgezeichnet wurde. Die aktuelle Bilderreihe entstand im Nachgang dazu und widmet sich dem gleichen Geist der Vergänglichkeit: Bildnisse– einst prägend für das Markenimage ihrer Auftraggeber, welche längst neue, effizientere Wege gefunden haben, ihreWerbebotschaften einem Publikum zu verkünden, das die ehemals belebten Trottoirs und Straßen vor Jahrzehntenschon verlassen hat –, sie fristen als stille Zeugen vergangener Zeiten ein Schattendasein an verwitterten Fassadenunscheinbarer Orte. Damit verkörpern sie weit mehr als einen schicken Vintage-Look und Retro-Style. Sie strahlen Würde aus, weil sie sich dem geänderten Umfeld widersetzen,das sie einst beherrschten. Solche Fassaden aufzuspüren ist ein glücklicher Moment. Viele Wandbilder sind mit der Zeit unwiederbringlich verloren gegangen; sie sind im Wortsinn auf der Strecke geblieben und haben zumindest die Gesellschaft zu ihrem Umfeld verloren. Erst diese rare Korrespondenz zwischen Grafik und Landschaft lässt ein Bild entstehen, das zu wahren,festzuhalten, zu verewigen so reizvoll ist. Trotz ihrer Seltenheit: In der vorliegenden Bilderauswahl finden sich ausschließlich Motive, die ich 2022 entdeckt habe.Möglich wurde das unter anderem durch Hinweise, die ich nach dem großen Erfolg des prämierten Vorgängers erhielt und für die ich dankbar bin. Wer bei einer Auslandsreise, davon inspiriert, ein weiteres Motiv entdeckt, möge mir gerne denOrt und einen Schnappschuss davon senden – meine ungebrochene Faszination für diese zurückgelassenen Botschaften,ihre ursprüngliche Pracht und ihren pragmatischen Verfall, ist jeden Kilometer wert, den ich und meine Kamera ihnen entgegenbringe.
Messages laissés à l’abandon
Vivaces - Rebelles – Pérennes
Ils nous trompent, les calendriers ! Ils prétendent vouloir rendre l'avenir prévisible, mais en réalité leur essence est de documenter le passage du temps. Cela s'applique à chacun dans son genre, en particulier à celui-ci. « Messages laissés à l’abandon », édition 2023 : Ceci est la suite de mon projet photo « Anciennes publicités sur façades », que j'ai photographiées en France pendant des décennies, projet qui a remporté l'important Gregor Calendar Award (Prix Gregor du Calendrier) en 2020.
La série actuelle de photos a été créée à la suite et est consacrée au même esprit de l’éphémère : des images (autrefois frappantes pour l'image de marque de leurs clients, qui ont depuis longtemps trouvé de nouveaux moyens bien plus efficaces pour d' annoncer leurs messages publicitaires à un public qui a délaissé depuis des décennies les trottoirs et les rues jadis animés) qui vivent dans l'ombre sur des façades patinées dans des lieux insignifiants en tant que témoins silencieux du temps passé. Elles incarnent bien plus qu'un look vintage chic et un style rétro. Elles respirent la dignité parce qu'elles résistent à l'environnement modifié qu'elles dominaient autrefois.
Retrouver de telles façades est un pur moment de bonheur. De nombreuses peintures murales ont été irrémédiablement perdues au fil du temps, quelques-unes sont littéralement plantées là et ont au moins perdu la relation à leur environnement. C'est cette correspondance rare entre les arts graphiques et le paysage qui crée une image si attrayante à conserver, à capturer, à immortaliser.
Malgré leur rareté : La présente sélection d'images ne contient que des motifs que j'ai découverts en 2022. Cela a été rendu possible, entre autres choses, grâce aux messages que j'ai reçus après le grand succès du calendrier précédent et pour lesquels je suis infiniment reconnaissant. Quiconque ‒ inspiré par ce calendrier ‒ découvre un autre motif lors d'un voyage à l'étranger, merci de m'en envoyer le lieu et un instantané ‒ ma fascination permanente pour ces messages laissés à l’abandon, leur splendeur originelle et leur délabrement pragmatique, vaut chaque kilomètre que mon appareil photo et moi arpentons pour les trouver.
Ryszard Kopczynski est né en Pologne. Il vit et travaille en Allemagne depuis près de 40 ans. En tant que concepteur photo, il travaille pour de nombreux clients réputés. En outre, il réalise lui-même divers projets artistiques et dirige la galerie non commerciale « Ludwig XIV » à Wuppertal, qui soutient l'art photographique qui se définit jeune et progressiste. Ryszard Kopczynski est membre de la Société allemande de photographie DGPh et de l'Association polonaise des artistes photographes ZPAF.
On peut retrouver les « messages laissés à l’abandon » du calendrier 2020 sur www.archikop.de, ainsi que d'autres exemples de sa photographie d'architecture passionnée.