Zurückgelassene Botschaften
Wände. Sie halfen uns Menschen schon immer zu kommunizieren, Hinweise zu geben, uns zu verewigen. Von ersten Höhlenmalereien über Fresken bis zur Graffitikunst: Immer gab es Künstler – renommierte und unbekannte – , die sie nutzten, um Zeichen und Zeichnungen zu erschaffen, von Hand, möglichst groß und gedacht für die Ewigkeit. Mancherorts wurden sie Plattform der Polit-Propaganda, wo anders Raum zur werblichen Verführung. Doch während die Propaganda stets ein abruptes Ende fand und zu übertünchen war, hat die einst boomenden Werbewände nur die Gnade des Vergessens ereilt; sie wurden obsolet, verdrängt von effizienten Massenmedien und führen ihr Dasein seitdem im Schatten verwitternder Fassaden. Gerade diese physische Vergänglichkeit – überwuchert, abgeblättert, überklebt, nur in Fragmenten sichtbar – macht sie für den Reisenden wieder attraktiv. Ihr Verfall belegt ihre Substanz, die modernen Werbeträgern – erst recht den digitalen – bei weitem überlegen ist.
Diese Gemälde fotografisch festzuhalten, beschäftigt mich seit den frühen 90er Jahren. Mit diesem Kalender veröffentliche ich ausschließlich Motive, die ich in Frankreich entdecken konnte. Jedes dieser Wandbilder erzählt etwas über seine vergangene Zeit, die meisten stammen aus den 1930er Jahren. Schon damals war die Wahrnehmung einer Fassadenwerbung auf wenige Sekunden begrenzt. Der verfügbare Platz sollte gut genutzt werden, Fernwirkung war wichtig. So wurde die Gestaltung diesem Umstand unterstellt. Es finden sich kaum Slogans, stattdessen wurden Markennamen so inszeniert, dass sie zu Archetypen wurden. Dubonnet für Aperitif, Martell für Cognac, Renault für Automobile, Total für Kraftstoff. Dafür wurden sogar Typographie und Farben des Corporate Designs den architektonischen Situationen angepasst. Gerade die großen Marken offenbaren eine Raffinesse, mit der sie die formalen Gegebenheiten zu nutzen wussten. Das unterscheidet sie von den vielen kleinen, regionalen Werbewänden, deren Anmutung meist nicht über einen hübschen Vintage-Look hinausreicht. Ausnahme: das Mai-Motiv. Weil die fundierte Gestaltung nicht recht zum provinziellen Inhalt passen wollte, drückte ich den Auslöser. Das war im April 1993 und das erste Foto dieser Serie.
Im Laufe der 2. Jahrhunderthälfte hat die geänderte Straßenführung der Routes Nationales einst belebte Straßen vom Durchgangsverkehr abgekoppelt, ihre ehemals attraktiven Fassadenflächen haben zusätzlich an Bedeutung verloren. Oft verfallen die Häuser, und man möchte glauben, dass nur der Zauber der Buchstaben und Farben sie noch am Leben erhält.
Auf solchen verlassenen Seitenstraßen habe ich über viele Jahre und ein Tausendfaches an Kilometern hinweg diesen zurückgelassenen Botschaften nachgespürt. Einige von ihnen sind mittlerweile unwiederbringlich verloren gegangen. Um so wichtiger sind mir die fotografischen Zeugnisse, die unterwegsentstanden, mit den unterschiedlichsten Kameras und Formaten, von der analogen HolgaSpielzeugkamera bis zur digitalen Hasselblad, jede mit ihrer ganz eigenen Sicht der Dinge.